Non-Compliance als gesundheitspolitische Nebenwirkung (2024)

Non-Compliance als gesundheitspolitische Nebenwirkung – Demoskopie und Problemanalyse am Beispiel der Rabattverträge

VonUwe May, Cosima Kötting und Tanaz Cheraghi/Die beste Arzneimitteltherapie bleibt wirkungslos, wenn der Patient die verschriebenen Medikamente nicht bestimmungsgemäß einnimmt. Ergebnis einer solchen Non-Compliance ist in vielen Fällen die Verschlechterung des Krankheitsbildes und hiermit einhergehend auch eine zusätzliche finanzielle Belastung der Kostenträger.

Non-Compliance hat viele Ursachen. Aktuelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass hierzu auch die rabattvertragsbedingte Umstellung auf ein anderes, wirkstoffgleiches, Arzneimittel gehören kann. Verknüpft mit Überlegungen zu den finanziellen Auswirkungen der rabattvertragsbedingten Non-Compliance geben die bisherigen Studien Anlass, das Thema genauer zu untersuchen.

Hintergrund

Compliance bezeichnet allgemein die Zuverlässigkeit des Patienten, eine Therapieanordnung zu befolgen. Bezogen auf die Arzneimitteltherapie ist damit die Anwendung des Präparats entsprechend der ärztlichen Verordnung, des apothekerlichen Rates oder der Packungsbeilage gemeint. Verschiedene Untersuchungen gehen davon aus, dass jedes fünfte Rezept gar nicht erst in der Apotheke eingelöst wird (sogenannte Primäre Non-Compliance) und dass bei rund 50 Prozent der zur Anwendung kommenden Arzneimittel sekundäre Non-Compliance im obengenannten Sinn vorliegt. Auch lebenswichtige Medikamente sind dabei keine Ausnahme, wie zum Beispiel Studien zu den Complianceraten für die Einnahme von Statinen bei der Sekundärprävention von Herzinfarkten und Schlaganfällen belegen.1 Die Kosten der Non-Compliance für das deutsche Gesundheitssystem werden von der ABDA und in gesundheitsökonomischen Publikationen auf rund 10 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt.2

PZ-Originalia

In der Rubrik Originalia werden wissenschaftliche Untersuchungen und Studien veröffentlicht. Eingereichte Beiträge sollten in der Regel den Umfang von zwei Druckseiten nicht überschreiten und per E-Mail geschickt werden. Die PZ behält sich vor, eingereichte Manuskripte abzulehnen. Die veröffentlichten Beiträge geben nicht grundsätzlich die Meinung der Redaktion wieder.

Die Ursachen einer Non-Compliance können vielfältig sein. Soziales Umfeld, Bildung und die verfügbaren finanziellen Mittel können die Therapietreue des Patienten beeinflussen. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient sowie eine nicht optimierte Arzneimitteltherapie und -information sind ebenfalls Faktoren, die zu einer Non-Compliance führen können. Auffällig ist dabei, dass Patienten in der Mehrzahl der Fälle nicht versehentlich, sondern vorsätzlich von der Therapieempfehlung abweichen. Dies zeigt die Sensibilität der Problematik und verdeutlicht, dass reine Informationsvermittlung und rationale Überlegungen (zum Beispiel auch bezüglich der pharmakologischen Austauschbarkeit von Präparaten) nicht zwangsläufig zum therapeutischen Ziel führen.

Vermeidbar sind insbesondere solche Ursachen der Non-Compliance, die durch die Gestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen verursacht werden. Beispiele für solche Rahmenbedingungen und Instrumente, bei deren Ausgestaltung der Compliance-Aspekt Berücksichtigung finden sollte, sind die Kosten-Nutzen-Bewertung, die Zuzahlungsregelungen und die Regelungen zur Apothekenpflicht und zur Beratungspflicht in der Offizin. Bei der Durchführung der Kosten-Nutzen-Bewertung sollten beispielsweise compliancefördernde Aspekte der Präparate systematisch Berücksichtigung finden. Bei der Zuzahlungsregelung und den Regelungen zur Apothekenpflicht darf nicht außer Acht gelassen werden, welche negativen oder auch positiven Anreize mit der jeweiligen Ausgestaltung für die Therapietreue der Patienten gesetzt werden. Die Thematisierung und therapeutische wie monetäre Bewertung des Problems der Non-Compliance könnte auch im Hinblick auf diese gesetzgeberisch gestaltbaren Einflussfaktoren entscheidende Argumente liefern.

Derzeit stehen unter den pharmapolitischen Instrumenten allen voran die Rabattverträge im Mittelpunkt der fachlichen und gesundheitspolitischen Debatte. Diese Aktualität und die vorhandene Datenlage sind Anlass, die Thematik der gesundheitspolitisch induzierten Non-Compliance hier am Beispiel der Rabattverträge zu diskutieren. Aktuelle Untersuchungen verschiedener Institutionen deuten darauf hin, dass das System der Rabattverträge die Non-Compliance erhöht. Berechnungen zu den hieraus resultierenden Kosten wurden für Deutschland bislang nicht vorgelegt, dennoch sollten diese aber in ihrer gesundheitsökonomischen Dimension nicht unterschätzt werden, wie die nachfolgend genannten Daten zeigen.

Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach

Eine aktuelle Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach, die im Auftrag des Bundesverbandes der Arzneimittel-Hersteller (BAH) durchgeführt wurde, liefert unter anderem neue Erkenntnisse zu den Erfahrungen und Einstellungen der Bevölkerung, bezogen auf das Leistungsspektrum in der GKV-Arzneimittelversorgung mit besonderer Berücksichtigung der rabattvertragsbedingten Complianceproblematik. Die Befragung ist repräsentativ für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ab 16 Jahre und wurde im Befragungszeitraum August 2009 anhand von 2500 persönlichen Interviews durchgeführt.3

Allgemein wird durch die Untersuchung zunächst dokumentiert, dass es vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen ein ausgeprägtes Problembewusstsein und eine hohe Sensibilität der Bevölkerung für die Wirtschaftlichkeits- und Finanzierungsproblematik in der Arzneimittelversorgung gibt. In diesem Kontext ist auch erklärbar, dass ein relativ hoher Anteil von 58 Prozent der Bevölkerung weiß, dass Krankenkassen mit Arzneimittelherstellern Rabattverträge abschließen können und dass dies die Auswahl der Medikamente beeinflusst. Jeder dritte Deutsche (32 Prozent) hat hier bereits persönlich die Erfahrung gemacht, durch die Rabattverträge ein anderes Medikament erhalten zu haben als dies ärztlich verschrieben oder der Patient es gewohnt war. Immerhin 7 Prozent aller Betroffenen und 11 Prozent in der Altersgruppe der Über-60-Jährigen gaben sogar an, durch den rabattvertragsbedingten Arzneimittelaustausch Probleme insbesondere mit Verträglichkeit und Nebenwirkungen der Medikamente gehabt zu haben. Auch Beeinträchtigungen der therapeutischen Wirkung wurden genannt (Kasten).

Konsequenzen der Rabattverträge

58 Prozent der Bevölkerung wissen, dass Krankenkassen mit Arzneimittelherstellern Rabattverträge abschließen können und dass das die Auswahl der Medikamente beeinflusst.

32 Prozent haben schon die persönliche Erfahrung gemacht, dass sie aus diesem Grund ein anderes Medikament erhielten als verschrieben oder gewohnt.

7 Prozent hatten daraufhin Probleme, insbesondere mit Verträglichkeit und Nebenwirkungen, von den 60-Jährigen und Älteren 11 Prozent.

Basis: Bundesrepublik Deutschland; Bevölkerung ab 16 Jahre Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 10042

Nicht zuletzt im Lichte dieser persönlichen Erlebnisse, aber auch über den betroffenen Personenkreis hinaus, geben mehr als Dreiviertel der deutschen Bevölkerung (76 Prozent) an, dass die Entscheidung, welches Medikament genau der Patient einzunehmen hat, allein vom Arzt getroffen werden sollte und die Krankenkasse hier eine Mitentscheidung aus wirtschaftlichen Gründen (wie im Fall der Rabattverträge) nicht haben darf (Abbildung 1).

Diese neuen Allensbach-Daten werden auch durch andere Studienergebnisse in der Tendenz bestätigt. Zu berücksichtigen ist bei einem Vergleich, dass alle Studien mit unterschiedlichen Methoden erhoben wurden und auf unterschiedlichen Studiendesigns basieren. In einer Untersuchung der KV Nordrhein werden gravierende Umstellungs- und Complianceprobleme durch einen Großteil der niedergelassenen Ärzte im Zusammenhang mit den Rabattverträgen dokumentiert.4 In einer von der AOK beauftragten Studie haben ein Viertel der Patienten angegeben, dass Probleme im Zusammenhang mit der Umstellung auf ein Rabattarzneimittel aufgetreten sind.5 Laut einer Umfrage der Hochschule Fresenius, die in Arztpraxen und Apotheken durchgeführt wurde, klagt ein Großteil der befragten Patienten über Nebenwirkungen nach der Umstellung auf ein rabattiertes Arzneimittel.6

Auswertung einer Kundenstichprobe in der Apotheke

Die Umsetzung von Rabattverträgen in der Apotheke und deren Auswirkungen auf die Compliance und Versorgungsqualität waren auch Gegenstand einer Patientenbefragung im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit im Fachbereich Medizin-Ökonomie der RFH Köln.7 Zufällig ausgewählte Kunden einer Offizin-Apotheke, die von Rabattverträgen betroffen waren, wurden im Herbst 2009 mithilfe eines Fragebogens unter anderem nach dem Einfluss der Rabattverträge auf ihre Therapie befragt. Mehr als zwei Drittel waren demnach der Ansicht, dass die Rabattverträge einen starken oder teilweisen Einfluss auf den Erfolg ihrer Therapie haben. Im Detail gaben die Befragten die nachfolgend dargestellten Probleme und Einschätzungen an (Abbildung 2).

Non-Compliance als gesundheitspolitische Nebenwirkung (2)

Bemerkenswert sind hier insbesondere die Aussagen zu den Statements C, E und F, die eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Anwenderproblemen und Vertrauensdefiziten im Zusammenhang mit dem rabattvertragsbedingten Arzneiaustausch offenbaren. Nicht überraschend ist, dass diese Probleme überproportional häufig von älteren Menschen zu Protokoll gegeben wurden. In Anbetracht jüngst publizierter Daten des universitären Forschungsverbunds PRISCUS,8 wonach Patienten jenseits des 70. Lebensjahrs durchschnittlich sechs verschiedene Medikamente regelmäßig einnehmen, darf insbesondere die in der Umfrage angeführte Verwechslungsgefahr bei wechselnder Form und Farbe der Präparate nicht unterschätzt werden.

Durch Rabattverträge... (Mehrfachnennungen möglich)

(A) …erhalte ich ständig wechselnde Medikamente verschiedener Hersteller

(B) …habe ich schon Arzneimittel erhalten, die ich nicht vertrug

(C) …weiß ich überhaupt nicht mehr, welches Arzneimittel für was ist

(D) …habe ich oft Ärger/Diskussionen in der Apotheke

(E) …haben sich für mich noch keine Probleme ergeben

(F) …habe ich das Gefühl, dass die Medikamente nicht richtig/gar nicht wirken

(G) …habe ich Unerwünschte Arzneimittel-Nebenwirkungen

Die hier ausgewertete Kundenstichprobe (n = 100) ist nicht repräsentativ und kann insofern nur als Indiz dafür gewertet werden, dass hier ein näher zu erforschendes Problem existiert. Gleichwohl ist festzuhalten, dass die Ergebnisse dieser Stichprobe in ihrer qualitativen und quantitativen Aussage mit großen Studien wie der oben zitierten Allensbach-Umfrage kompatibel sind.

Gesundheitsökonomische Dimension der Non-Compliance

Unabhängig von den noch nicht quantifizierbaren Kosten der rabattvertragsbedingten Non-Compliance, werden die gesundheitsökonomischen Folgekosten der Non-Compliance insgesamt in der Literatur überwiegend – wie eingangs zitiert – mit 10 Milliarden Euro pro Jahr veranschlagt. Einige Schätzungen gehen auch von 15 bis 20 Milliarden Euro aus. Diese Werte entsprechen Anteilen von 7 bis 13 Prozent der Gesamtausgaben der GKV und mindestens einem Drittel der Arzneimittelausgaben (Arzneimittelausgaben der GKV lagen 2009 bei rund 27 Milliarden Euro9). Allein die etwa 4000 Tonnen Arzneimittel(müll), die jährlich dadurch anfallen, dass die Medikamente nicht eingenommen werden, stellen für die GKV eine Ressourcenverschwendung im Wert von rund 4 Milliarden Euro dar.10 Diese Zahlen und die nachfolgenden Überlegungen sollen dazu beitragen, das Thema Non-Compliance in seiner Tragweite sichtbar zu machen und somit eine Sensibilisierung gegenüber gesetzlichen Maßnahmen zu schaffen, die (so wie Rabattverträge) dieses Problem noch verschärfen.

Die Problematik der Non-Compliance und die damit verbundenen ökonomischen Auswirkungen betreffen den einzelnen Patienten ebenso wie die Solidargemeinschaft. Der Patient ist primär durch ausbleibenden Therapieerfolg und mögliche Folgeerkrankungen betroffen, was sogenannte intangible Kosten verursacht. In­tangible Kosten sind monetär nicht messbare Effekte, die sich im vorliegenden Zusammenhang in der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, der Patientenzufriedenheit oder dem Vertrauen in die medizinische Behandlung niederschlagen können.11 Des Weiteren hat der Patient aber auch finanzielle Belastungen, unter anderem zusätzliche direkte Kosten wie Rezeptgebühren, Praxisgebühren und Zuzahlungen zu tragen.

Die Solidargemeinschaft und die einzelnen Kostenträger werden infolge der Non-Compliance mit direkten medizinischen Kosten aber auch mit indirekten volkswirtschaftlichen Kosten belastet (Abbildung 3). Diese vermeidbaren Kosten resultieren unter anderem aus zusätzlichen Arztbesuchen, Zusatz- und Begleitmedikationen bis hin zu Notfalleinsätzen, Krankenhauseinweisungen und Pflegekosten. Es wird geschätzt, dass 25 Prozent aller Krankenhauseinweisungen direkt oder indirekt die Folge einer falschen Arzneimitteleinnahme sind.12

Non-Compliance als gesundheitspolitische Nebenwirkung (3)

Eine belastbare Datengrundlage, um die Folgen der mangelnden Compliance in der Arzneimitteltherapie differenziert zu quantifizieren, liegt für Deutschland zurzeit nicht vor. Ein theoretisches Szenario das teilweise auf US-amerikanischen Studien beruht, wird hier ersatzweise wiedergegeben, um einen Eindruck von der Dimension der zu erwartenden Effekte zu vermitteln.13

Die modellhafte Rechnung, die einer wissenschaftlichen Arbeit an der RFH Köln zugrunde liegt, zeigt an einem Indikationsbeispiel, wie hoch die direkten Folgekosten einer Non-Compliance sein könnten:14

Die poststationären Arzneimittelkosten für die Sekundärprophylaxe bei einem Herzinfarkt-Patienten, belaufen sich auf 259,15 Euro pro Jahr.

Falls es infolge einer Non-Compliance zu einem erneuten stationären Aufenthalt mit der Diagnose Myokardinfarkt kommt, entstehen Kosten von 2849,08 Euro.

Hochgerechnet auf die Fallzahlen für Myokardinfarkte in deutschen Krankenhäusern (rund 210000) und unter der Prämisse, dass, so wie in den USA 12 Prozent der Patienten die Medikamente nicht mehr einnehmen, entsteht eine Fallzahl von 25011 Patienten, die ein nicht therapietreues Verhalten auf­weisen.

Wenn der Myokardinfarkt, wie in der Modellrechnung angenommen, die Folgeerkrankung ist, dann entstehen weitere Folgekosten in Höhe von insgesamt 71258340 Euro.

Die beiden Tabellen zu den Kosten eines stationären Krankenhausaufenthalts und einer leitliniengerechten Arzneitherapie in der hier betrachteten Indikation verdeutlichen die Relationen der relevanten direkten Kosten.

Tabelle 1: Kalkulation der Kosten für einen stationären Krankenhausaufenthalt infolge eines Myokardinfarktes oder einer instabilen Angina Pectoris

Diagnose Relativgewicht Landesweiter Basiswert Nordrhein-Westfalen Vergütung
Myokardinfarkt, DRG F60B 1,044 2729 Euro 2849,08Euro
Instabile Angina Pectoris, DRG F72B 0,509 2729 Euro 1389,06Euro

Quelle: InEK – Fallpauschalenkatalog 2008, 2008, Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW): Pressemitteilung, Landesweiter Basisfallwert 2008 für NRW, 2008.

Neben den direkten Krankheitskosten sind auch die indirekten Kosten von Bedeutung, die gemäß verschiedener internationaler Analysen in ähnlicher Höhe anzusetzen sind wie die direkten Kosten.15 Die indirekten Kosten werden durch reduzierte Leistungsfähigkeit, Krankheit, Invalidität oder vorzeitigen Tod hervorgerufen. Diese Faktoren führen zu einem volkswirtschaftlichen Produktivitätsverlust und zu Kosten durch krankheitsbedingte Fehl­zeiten.

Tabelle 2: Kalkulation der jährlichen und monatlichen Kosten für Arzneimittel

Wirkstoff Mittlere Kosten je DDD Jahreskosten Monatskosten
Acetylsalicylsäure (ASS) 0,04 14,60 1,20
Betarezeptorenblocker 0,40 146,00 12,00
Statine 0,27 98,55 8,10
Gesamtkosten 0,71 259,15 21,30

Angaben in Euro. Quelle: Schwabe, Paffrath: Arzneiverordnungsreport 2008.

Die hier beschriebene gesundheitsökonomische Größenordnung der gesamten Non-Compliance-Problematik ist mit den zuvor dargestellten Erkenntnissen zur Prävalenz der rabattvertragsinduzierten Non-Compliance in Relation zu setzen. Hierbei wird deutlich, dass bereits eine geringe Beeinträchtigung der Therapietreue durch rabattvertragsbedingten Arzneimittelaustausch zu Mehrkosten der Gesundheitsversorgung führt, die im Vergleich zu den Einsparungen des Rabattsystems unverhältnismäßig sind. Dies sei durch folgendes fiktives Zahlenbeispiel illustriert: Geht man konservativ von 10 Milliarden Euro Gesamtkosten der Non-Compliance aus, so führt schon eine Zunahme der Non-Compliance um 3 Prozent zu Folgekosen von 300 Millionen Euro. Dies entspricht der Summe, die das Bundesministerium für Gesundheit als Einsparvolumen der Rabattverträge im Jahr 2008 angibt (310 Millionen Euro). Realistischerweise wäre zudem unter anderem in Rechnung zu stellen, dass die Rabatt-Einsparungen bereits teilweise dadurch aufgezehrt werden, dass in den Apotheken ein erhöhter Personalbedarf zur Beratung der durch Rabattverträge betroffenen Patienten entstanden ist. So ist die nunmehr im Raum stehende Absenkung des Apothekenabschlags (ein entsprechender Schiedsspruch wird derzeit gerichtlich überprüft) teilweise diesem erhöhten Beratungsaufwand geschuldet.

Ausblick

Die zurückliegende Erfahrung hat gezeigt, dass alleine die Benennung des Problems der Non-Compliance, ohne diese mit entsprechenden Fallzahlen und Kosten zu hinterlegen, auf wenig Resonanz in den Fachkreisen und der Politik stößt. Wünschenswert wäre daher ein umfassender statistisch-ökonomischer Ansatz, um die durch das Rabattvertragssystem ausgelösten zusätzlichen Non-Compliance-Fälle zu quantifizieren und aus der medizinisch-pharmazeutischen und volkswirtschaftlichen Perspektive zu bewerten. Hieraus könnte abgeleitet werden, welche Kosten das Rabattvertragssystem durch Non-Compliance verursacht, sodass diese neben den Verwaltungskosten unter anderem in Relation zu den Einspareffekten durch die Preisnachlässe gesetzt werden können.

Die Vernachlässigung des Compliance-Arguments wurde hier an der Problematik der Rabattverträge festgemacht. Tatsächlich ist dieses System selbst unter den gesetzlich beeinflussbaren Faktoren nur eine von verschiedenen Ursachen der Non-Compliance. Auch andere pharmapolitische und apothekenspezifische Entscheidungen sollten stärker daran ausgerichtet werden, welchen Beitrag sie zur Verbesserung der Therapietreue und dem Patientennutzen leisten. Im Fall der Rabattverträge ist es ein konkretes Regulierungsinstrument, das sich (auch) an dieser unerwünschten Nebenwirkung messen lassen muss. Im Hinblick auf Regelungen, die direkten Bezug zur Produktqualität haben, wie die Kosten-Nutzen-Bewertung, ist ein methodischer Rahmen zu fordern, der es gestattet, den Einfluss eines spezifischen Präparates auf die Compliance unter Alltagsbedingungen in die Bewertung einzubeziehen. Betrachtet man hingegen die Regelungen zum Vertrieb und der Abgabe von Arzneimitteln, so ist es analog zu obenstehenden Überlegungen konsequent, ebenfalls zu hinterfragen und zu bewerten, welchen Effekt beispielsweise die persönliche Arzneimittelabgabe und Beratung auf Compliance und Therapieerfolg haben. Nur wenn solche Effekte dokumentiert und bewertet sind, werden sie ein ernst zu nehmendes Gegengewicht zu Euro-Beträgen darstellen, die, um die drei obengenannten Beispiele aufzugreifen, den Rabattverträgen, der Kosten-Nutzen-Bewertung und dem heutigen Vertriebssystem als Einsparbeträge beigemessen werden. Was hier demnach noch weiter erforscht werden sollte, sind die Zusammenhänge, die einerseits zwischen den aktuell geltenden und politisch diskutierten gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Compliance sowie andererseits zwischen der Compliance und den gesundheitsökonomischen Folgewirkungen im deutschen Gesundheitssystem bestehen./

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Vgl. zum Beispiel Stroke 41, 2010, 397, zitiert nach: Ärzte Zeitung, Nr. 20, Jg. 29 vom 3. Februar 2010, S. 1.

Eine Metaanalyse, der die genannten Zahlen entnommen sind: Gräf, M., Die volkswirtschaftlichen Kosten der Non-Compliance; Schriften zur Gesundheitsökonomie Bd. 56, Bayreuth 2007.

Institut für Demoskopie Allensbach, Gesundheits- und Arzneimittelversorgung in der deutschen Bevölkerung, Eine Repräsentativbefragung der Bevölkerung ab 16 Jahre, Umfrage 10042, Allensbach 2009.

DocCheck Online Studie: Rabattverträge und Präparatsubstitution. DocCheck Medical Services GmbH. Köln, 2008.

WidO: Arzneimittelrabattverträge der AOK. Pressemitteilung. 6. Mai 2009.

Neises G., Menges A., Palsherm I., Stangl J., Schneider C., Bausch J.: Machen Rabattverträge krank? In: Pharmazeutische Zeitung, 154. Jahrgang, 19. November 2009. S. 47 ff.

Cheraghi, T.: Umsetzung von Arzneimittel-Rabattverträgen in der Apotheke – Eine Untersuchung zur Compliance und Versorgungsqualität auf Basis einer Patientenbefragung, Diplomarbeit RFH Köln University of Applied Sciences, Studiengang: Medizinökonomie, Köln 2009.

Meyer, J., Studie zum Medikamentenkonsum alter Menschen: Durchschnittlich sechs Arzneien pro Tag – kaum Kenntnisse über Wechselwirkungen, in: Die BKK, Jahrg. 98, Nr. 1/2010, S. 22-26.

Effektive Arzneimittelausgaben der GKV nach ABDA Statistik / Apothekenrechenzentren 2010.

Vgl. Bierwirth, R., Paulst, R., Compliance und Empowerment in der Diabetologie, Wie motivieren wir Diabetiker in der Praxis?, Bremen 2004, S. 13 und Heier, M., Mein Patient macht nicht, was ich will, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 23, S. 71.

Vgl. Petermann, Ehlebracht-König: Akt Rheumatologie, 2004, S. 67-74.

Sonnenmoser, M., ABDA-Referat: Compliance in der Arzneimitteltherapie, Online-Veröffentlichung, URL www.iak-bw.de/service/referate/compliance.pdf. Zugriff: 10.6.2006 und Heier, a.a.O., S. 71.

Rechenbeispiele aus der nachfolgenden Arbeit: Semkowsky, C: Die gesundheitsökonomischen Auswirkungen durch fehlende Compliance der Anwender in der Arzneimitteltherapie am Beispiel der Rabattverträge, Diplomarbeit RFH Köln. Studiengang Medizin-Ökonomie, Köln 2009.

Semkowsky, C: Die gesundheitsökonomischen Auswirkungen durch fehlende Compliance der Anwender in der Arzneimitteltherapie am Beispiel der Rabattverträge, Diplomarbeit RFH Köln. Studiengang Medizin-Ökonomie, Köln 2009.

Vgl. Cleemput, Kesteloot, DeGeest: A review of the literature on the economics of noncompliance. Room for methodological improvement, 2002, S. 65-94.

Anschrift der Verfasser:

Cosima Kötting, Dr. Uwe May

Bundes­verband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) e.V.

Ubierstraße 71-73

53173 Bonn

koetting(at)bah-bonn.de

may(at)bah-bonn.de

Außerdem in dieser Ausgabe...

Non-Compliance als gesundheitspolitische Nebenwirkung (4)

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